Sprung über die innerdeutsche Grenze
Einen großen Teil meines Lebens verbrachte ich in Südthüringen, einen Teil davon vor dem Mauerfall. Innerhalb meiner Familie blicken wir auf viele Momente und Erfahrungen zurück, über welche wir heute schmunzeln oder die zum Nachdenken anregen.
Im Juni 1928 wurde meine Oma Inge auf der später westlichen Seite von Mödlareuth geboren. Die Familie zog später in eine Mietwohnung nach Gefell, bis Hitler 1939 den Hausbau für kinderreiche Familien vergünstigte und sie unser heutiges Haus bezogen. Mit meiner Oma waren es insgesamt sieben Geschwister. Im Alter von sieben Jahren musste sie regelmäßig bei verschiedenen Bauern aushelfen, auch Sommer auf der dann westlichen Seite Deutschlands verbringen, vor allem während der Lebensmittelknappheit Ende des zweiten Weltkrieges, um die Familie zu unterstützen. In ihrer ersten Ehe lebte sie in Plauen, von circa Ende der 50er bis in die 60er Jahre. Die zweite Ehe mit Opa Hugo führte sie zurück nach Gefell, wo 1964 mein Papa René geboren wurde. Sie lebten mit Omas Eltern, Ida und Alfred, im heutigen Haus. In Ostdeutschland gingen Frauen mit 60, Männer mit 65 Rente. Da Hugo 1903 geboren war, konnte er nach seinem Renteneintritt öfter mit einem Visum seine Tochter Margot aus erster Ehe und deren Mann Jochen im Großraum Stuttgart besuchen. Wenn die beiden zu Besuch kamen, mussten sie sich zunächst in Schleiz anmelden. Auch meine Oma durfte kurz vor Renteneintritt, 1987 in den Westen ihre Familie besuchen. Sie brachte Kiwis, Sandspielzeug und eine Bohrmaschine mit. Rentner in den Westen reisen zu lassen war strategisch – kamen diese nicht zurück, sparte sich der Osten deren Rente. Mein Papa diente von November 1988 bis normalerweise April 1990 in der Ostdeutschen Armee. Da die Grenze 1989 öffnete und der Westen nur ein Jahr Wehrpflicht hatte, konnte er diese eher verlassen. Als er als Soldat, während seiner Dienstzeit in Berlin, einmal Ausgang hatte, konnte er Westberlin besuchen. Da er nur 1,5 Jahre dienen wollte, wurde er relativ spät mit 24 Jahren eingezogen. Zu dieser Zeit war er bereits verheiratet und hatte zwei Kinder. Aufgrund seiner langen Fahrerfahrung wurde er in Berlin Strausberg stationiert und fuhr hochrangige Militärs. Die Nähe zur Familie wurde übrigens außer Acht gelassen.

Die Familie meiner Mam Maren lebte direkt im Sperrgebiet in Hirschberg. Zuvor stammte die Familie ihres Vaters Wolfgang aus dem ehemaligen Sudetenland, wo noch heute ein Teil dieser lebt, da nicht alle vertrieben wurden. Ursprünglich ist ihre Mutter Karla in Merseburg aufgewachsen, nach ihrer Heirat zogen sie und ihr erster Mann Wolfgang nach Hirschberg, weil dieser dort in den Grenzdienst versetzt wurde. Meine Eltern lernten sich 1984 kennen. Papa hatte einen grünen Schein, da er als LKW-Fahrer in verschiedene Sperrgebiete musste, zum Beispiel nach Mödlareuth in den Schutzstreifen. Er durfte auch beruflich nach Hirschberg, aber um meine Mam zu besuchen, musste er einen roten Schein vorlegen – da ihn die Polizisten am Schlagbaum in Dobareuth kannten, durfte er manchmal mit dem Motorrad durch. Der Schlagbaum befand sich bis Mitte der 80er Jahre noch am Binsenfleck circa 1 km von Gefell entfernt und das Gebiet bis zur Grenze wurde als Grenzgebiet bezeichnet. Erst danach entstand das Sperrgebiet. Mam stand einmal mit einem ihrer Brüder in Schleiz und bekam keinen Busschein, weil sie ihren Nachweis vergessen hatten. Glücklicherweise konnte die Sekretärin ihrer Schule die Verkäuferin des Busscheinhäuschens überreden, dass sie die beiden kennt und sie wirklich im Sperrgebiet leben. Direkt hinter ihrem Haus war der Zaun und die Mauer, dahinter die Saale. Mam und ihre Brüder fütterten oft die Hunde, welche regelmäßig ausgetauscht wurden da sie die Anwohner nicht mehr anbellten. Bewaffnete Soldaten die die Grenze patrouillierten gehörten zum Alltag. Ich erinnere mich auch daran, wenn wir als kleine Kinder im Hof spielten. Einmal kletterte Mam mit ihren Freundinnen den Schlossfelsen hinauf, das war bereits Teil des Grenzstreifens, der nicht betreten werden durfte. Einen Tag später kamen drei Grenzer in die Schule und suchten nach drei Jungs, welche an den Felsen herumgeklettert waren. Sie hatten viel Glück, denn es war allgemein bekannt, dass im Grenzstreifen Schießbefehl galt.

Karlas zweiter Mann Wolfgang kam aus Gefell. Er erinnert sich, dass seine Großeltern 1952 mit der Aktion Ungeziefer nach Oßmannstedt umgesiedelt wurde. Sie erhielten die Nachricht und wurden zwei Tage später mit einem LKW, ihren Sachen und ein paar Möbeln abgeholt. Andere, aus Birkenhügel berichten, dass Menschen einfach irgendwann am nächsten Morgen weg waren und keiner wusste was passiert war. Die Häuser wurden enteignet und in Gefell betraf das fünf Familien. In einer erneuten Umsiedlungsaktion 1962 wurden Familien für die Enteignung entschädigt. Die Familie der Tischlerei wurde zu dieser Zeit ebenfalls nach Oßmannstedt umgesiedelt und konnte sich von dem Geld dort ein Haus bauen. Wolfgangs Mutter musste das Elternhaus in Gefell zurückkaufen, wo er dann aufwuchs. Sein Opa wurde nach dem Krieg von den Amerikanern in Kornwestheim interniert. Da er zurück in den Osten wollte, musste er ein Jahr dort bleiben. Andere wurden viel früher entlassen. Seine Eltern reisten einmal illegal über die Grenze, um ihn zu besuchen und wurden bei ihrer Rückkehr in Hof inhaftiert, obwohl sie nur wieder in den Osten zurück wollten. Des Weiteren arbeitete er in Hirschberg, wo er meine Oma kennenlernte. Verpasste Wolfgang allerdings den Bus, durfte er nicht mit seinem Auto auf Arbeit fahren, sondern musste auf den nächsten warten.
Als die Mauer fiel, fuhren wir wie viele Menschen an die Grenze nach Mödlareuth. Alle Menschen lachten und fanden es wahnsinnig witzig wiederholt über die Grenze zu springen: „Jetzt bin ich im Westen [hüpft zurück] Jetzt bin ich im Osten.“ Wir taten dies ebenfalls, es war ein seltsames Gefühl was sich mit keinem anderen bisher vergleichen lässt.
